Was ist struktureller Rassismus?

In den Folgen von «We Talk. Schweiz ungefiltert» werden immer wieder Ausdrücke verwendet, die vielleicht schwammig, nicht eindeutig oder nicht für jede*n verständlich sind. Deshalb wollen wir etwas Klarheit schaffen. 

Beginnen wollen wir mit dem Begriff «struktureller Rassismus», der in der ersten Folge We Talk. Schweiz ungefiltert genannt wurde, die am 10. März online ging. Der Begriff wurde in der Rassismusforschung mit vielfältigen Konzepten und Perspektiven eingeführt und wird von Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen benutzt. Immer mehr wird er auch in Medienberichten verwendet und fliesst so langsam in die Alltagssprache ein. 

«Struktureller Rassismus» verweist auf die über Jahrhunderte gewachsenen, entwickelten und auch veränderten Vorstellungen gesellschaftlicher Ideen der Überlegenheit, gemäss denen gewisse Menschengruppen weniger Rechte haben sollen und sie als nicht gleichwertig wahrgenommen werden – nicht gleichberechtigt zugehörig zur Schweiz, zu Westeuropa, Europa und zum gesamten globalen Norden. In Wissenschaft, Literatur, Werbung, Konsum, Bildung und Kultur sowie in der Politik wurden und werden noch immer Ideen, Bilder und Vorstellung vermittelt, die die «eigene» Kultur der Kultur aus Kontinenten und Staaten im Süden und Osten als entgegensetzt und überlegen fantasieren. Von strukturellem Rassismus wird auch gesprochen, wenn staatliche oder private Institutionen bestimmte Regeln, Prozesse und Routinen aufweisen, die laufend zur Diskriminierung bestimmter Menschengruppen führen. Siehe hierzu auch das Gespräch mit der Sozialanthropologin, Geschlechterforscherin und Journalistin Serena O. Dankwa. Ebenfalls Teil des strukturellen Rassismus ist die mangelnde Kompetenz von Institutionen, alle Menschen, unabhängig von «Hautfarbe, Kultur, Religion oder Herkunft», auf gleiche Weise zu behandeln.

Von strukturellem Rassismus betroffen sind sämtliche Bereiche unseres Lebens. Die Vorstellung der Überlegenheit gegenüber gewissen Menschengruppen führt beispielsweise dazu, dass es in der Gesellschaft als legitim wahrgenommen oder gar aberkannt wird, dass die Polizei bestimmte Menschengruppen, in Kontrollen z.B. Schwarze anders oder mit weniger Respekt behandelt. Ausführungen dazu findet Ihr im Buch «Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand». Ein weiteres Beispiel von strukturellem Rassismus ist die Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrungen in den Redaktionen der klassischen Medien, wie unter anderem die Neuen Schweizer Medienmacher*innen ausführen. Ebenfalls eine Form von strukturellem Rassismus sind Regeln und Verfahren im Bildungswesen, die dazu führen, dass Diskriminierungen bei Einschulungen und Schulübertritten nicht erkannt und laufend wiederholt werden. Einen aufschlussreichen Bericht dazu hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren und -direktorinnen publiziert. 

Rassismus beschränkt sich also nicht auf Diskriminierungen von Individuen und Einzelfällen, wie zum Beispiel die Kündigung einer Person, weil sie mit Kopftuch zur Arbeit erschien. Vielmehr steht hinter jeder rassistischen Diskriminierung eine über lange Zeit – teils Jahrhunderte – gewachsene Einteilung der Menschen in «überlegene und unterlegene» Menschengruppen. 

Ein Beispiel einer solchen Überlegenheitsvorstellung ist der koloniale Rassismus. Dabei geht es um die rassistischen Vorstellungen, Bilder und Ideen, dass schwarze Menschen afrikanischer Herkunft «unzivilisiert» und «minderwertig» seien, und die «eigene», «weisse Rasse» einen höheren Grad an Rationalität und Zivilisierung aufweisen soll. Diese Vorstellung kann sich auch gegen Menschen asiatischer Herkunft und weitere Gruppen richten. Im rassischen Antisemitismus werden Juden als körperlich, psychisch und moralisch degeneriert und damit als «Gefahr für den Volkskörper» dargestellt, mitunter auch als tiergleich. Ebenfalls im rassistischen Denken und Fühlen der Überlegenheit verankert, ist die Vorstellung, dass Menschen aus muslimisch geprägten Ländern als «rückständig» und «fundamentalistisch» etikettiert werden. Siehe dazu das Gespräch mit der Erziehungswissenschaftlerin und Rassismusforscherin Asmaa Dehbi mit dem Institut Neue Schweiz

Eine weitere tief verankerte rassistische Idee ist jene, die das Nomadentum von fahrenden Roma, Sinti und Jenischen mit «Primitivität» verknüpft. Mehr dazu findet Ihr auf der Homepage der Gesellschaft für bedrohte Völker. Sodann gibt es die Form des antislawischen Rassismus, der Menschen als unterentwickelt wahrnimmt. 

Ein Aspekt dieser Überlegenheitsvorstellungen zeigt sich auch in der Wahrnehmung von Migrant*innen – seien es Arbeitsmigrant*innen oder Geflüchtete. Hier kommt es mit jeder neuen Einwanderungsbewegung, wie die Zeit der Gastarbeiter*innen ab den 1960er-Jahren, die Tamil*innen in den 80er-Jahren oder Menschen aus Ex-Jugoslawien in den 90er-Jahren, immer wieder zu einer Verunsicherung der nationalen «Identität» und der Vorstellung, die Sicherheit und der Wohlfahrtsstaat seien durch die Zuwanderung bedroht. Damit einher gehen Abwertung, Stigmatisierung und Diskriminierung. Ein interessantes Gespräch dazu mit Angelo Maiolino zur Situation der Italiener*innen in den 1960er- und 70er-Jahren findet Ihr hier.

Aus diesen Gründen möchte We Talk. Schweiz ungefiltert auf bestehende strukturelle Ungerechtigkeiten und die damit zusammenhängende Reproduktion von Rassismen und Diskriminierungspraktiken aufmerksam machen. Eine Sensibilisierung gegenüber bestehenden Praktiken, eine bewusste Entscheidung gegen diese und für eine postmigrantische Schweiz, können solchen Ideologien entgegenwirken.

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