In den Folgen von «We Talk. Schweiz ungefiltert» werden immer wieder Ausdrücke verwendet, die vielleicht schwammig, nicht eindeutig oder nicht für jede*n verständlich sind. Deshalb wollen wir etwas Klarheit schaffen. Hier könnt ihr die Erläuterungen zum Begriff «struktureller Rassismus» nachlesen. In diesem Beitrag gehen wir auf den Begriff «Secondo» ein.
Sehr allgemein gesagt, wurde der Begriff «Secondo» eingeführt, um die zweite Ausländer*innengeneration zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um Jugendliche und Erwachsene, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen in die Schweiz eingewandert sind. Sie selber sind in der Schweiz geboren, oder als sehr junge Kinder mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen. Oder sie sind ihren Eltern oder einem Elternteil als junge Kinder in die Schweiz nachgereist, wie zum Beispiel Ylfete Fanaj, die Präsidentin des Luzerner Kantonsrats. Ylfete Fanaj ist Kind eines Arbeitsmigranten und Saisonniers, der vor 38 Jahren aus Prizren, dem Kosovo, in die Schweiz kam. Neun Jahre nachdem Ylfete Fanaj 1982 im Kosovo geboren war, reiste sie 1991 im Familiennachzug nach Sursee Luzern. Ihre berührende Rede zur Wahlannahme als Präsidentin des Luzerner Parlaments ist hier nachzulesen: https://www.institutneueschweiz.ch/De/Blog/250/Ylfete_Fanaj.
Im Gegensatz zu ihren Eltern hat diese zweite Ausländer*innengeneration also bereits von Geburt oder sehr jung an einen selbstverständlichen und engen Bezug zur Schweiz. Die Schweiz ist ihr Lebensmittelpunkt und sie sehen sich als Schweizer*innen. Auch wenn viele von ihnen gleichzeitig eine enge Beziehung zu Kultur und Familie der Länder ihrer Eltern haben. Die Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit zur Schweiz dieser zweiten Ausländer*innengeneration war und ist bei vielen jedoch auch mit der Erfahrung der Diskriminierung und Stigmatisierung als «Fremde», «nicht richtige Schweizer» verbunden. «Halb, halb» war die häufigste Antwort von «Secondos» und Emigrantenkindern Anfang der 1990er-Jahre auf die Frage, ob sie sich denn als Schweizer*innen oder als Ausländer*innen fühlen. So tönte es im Film Babylon 2 von 1993 des Schweizerisch-Irakischen Regisseurs Samir. Ein kurzer Beschrieb des sehenswerten Filmes, in welchem Secondos und Secondas auftreten, findet Ihr hier: https://www.filmbulletin.ch/full/filmkritik/1993-8-1_babylon-ii/.
Der Film, in dem der Begriff «Secondo» erstmals im öffentlichen Diskurs auftauchte, zeigt eindrücklich die komplexen Erfahrungen der Mehrfachzugehörigkeit von Jugendlichen der zweiten Ausländer*innengeneration. Zu Wort kommen unter anderem Luana, die auf englisch rappt, in Basel geboren wurde und deren Eltern aus Kalabrien stammen; zudem Studentin Saida und MC Carlos, Sohn spanischer Eltern, von der französisch sprechenden Rap-Gruppe Sens Unik. Ein Porträt von Carlos Leal findet ihr hier: https://www.srf.ch/play/tv/kultur-extras/video/carlos-leal-mit-sens-unik-10vor10-vom-13-6-1994?urn=urn:srf:video:af32d925-452e-499e-b4a4-4e20e8e688ea.
Um die Vielfalt des komplexen Gefühls der Mehrfachzugehörigkeit unterschiedlicher Generationen von Second*as zwischen Teilhabe und Legitimationsdruck etwas nachzuempfinden, lohnt es sich, das Gespräch zwischen Samir und Uğur Gültekin, dem Journalisten und Vorstandsmitglied des Institut Neue Schweiz, zu lesen: https://www.institutneueschweiz.ch/De/Blog/233/Samir_Ugur. Im Gespräch sagt Samir: «Meine Jugend in der Schweiz der 70er-Jahre war ein Desaster. Auf der einen Seite wusste ich sehr gut, dass ich dieses Land durch mein Leben als Migranten-Kid besser kannte als alle meine ‘Schweizer Freunde’ und trotzdem war ich in einer eigenartigen Situation. Ich wurde von meinen Freunden zwar als ein ‘Schweizer’ anerkannt, doch meine Herkunft wurde verdrängt oder war kein Thema. Meine Gefühle waren sehr ambivalent. Einerseits wusste ich, dass ich zu diesem Land gehörte, aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich nicht anerkannt wurde in meinem hybriden Dasein. Das erzeugte eine tiefe Abneigung gegenüber der Gesellschaft. Das Gefühl der Rückweisung spürte ich auch bei den Linken, denn auch meine Genoss*innen interessierten sich schlichtweg nicht für meine Beschäftigung mit der Politik und Kultur des Nahen Ostens.»
Second*as zwischen Stigmatisierung und Kämpfe um Teilhabe
So richtig bekannt und auch in der Alltagssprache Einzug hielt der Begriff «Secondo» dann im Nachgang der in den Medien als «Krawalle» bezeichneten Nachdemonstrationen zur 1. Mai-Feier in Zürich im Jahr 2002. Diese Geschichte zeichnet Ann-Seline Fankhauser in ihrer Masterarbeit nach. Sie schreibt: Die damalige Zürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer machte die Secondos, die Jugendlichen der zweiten Ausländer*innengeneration, für die Ausschreitungen verantwortlich. Obwohl sich im Nachhinein herausstellte, dass nur gerade ein Drittel aller Verhafteten Secondos waren, war mit der vorschnellen Verurteilung und der kollektiven Zuschreibung dem Ansehen einer ganzen Bevölkerungsgruppe geschadet worden. Der Begriff «Secondo», der von den Medien bereitwillig aufgenommen wurde, stand fortan für ein angeblich vorhandenes gesellschaftliches Problem.
Jugendliche ausländischer Herkunft rückten plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, wobei sie mit Gewaltbereitschaft und kriminellem Verhalten in Verbindung gebracht wurden. «Secondo» wurde auch zu einem Wort für «schlecht integrierte» männliche Jugendliche ausländischer Herkunft, die als Gefahr für das Zusammenleben betrachtete wurden. Eine diskriminierende Zuschreibung führte somit zur Entstehung eines neuen Phänomens, den Secondos.
Als Reaktion auf die öffentliche Stigmatisierung und den erlittenen Imageschaden schlossen sich empörte Jugendliche der zweiten Ausländer*innengeneration in verschiedenen Gruppen und Netzwerken zusammen mit dem Ziel, den Begriff erneut mit einer positiven Bedeutung zu versehen und auf die gesellschaftliche Situation von Second*as aufmerksam zu machen. Das Netzwerk von politisch aktiven Second*as entstand damals als direkte Antwort auf die Anschuldigungen gegenüber den Jugendlichen der zweiten Generation: als Widerstand gegen Stigmatisierung und Diskriminierung.
2003 und 2004 engagierte sich die neu gegründete Organisation «Second@s Plus Zürich» bei den Abstimmungen über die erleichterte Einbürgerung der zweiten Generation und die automatische Einbürgerung der dritten Generation. Dies taten sie mit dem Argument, die Second*as seien längst Teil der Schweizer Gesellschaft und sie seien, obwohl nicht komplett assimiliert, doch gut integriert. Die erleichterte Einbürgerung der zweiten Generation wurde deutlich mit 56.8% Nein-Stimmen, die automatische Einbürgerung der dritten Generation etwas knapper mit 51.6% Nein-Stimmen abgelehnt. Daraufhin bildeten sich in den verschiedenen Städten und Regionen nach und nach weitere Organisationen von «Second@s Plus».
Auch zur Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten», die im November 2009 von der Schweizer Stimmbevölkerung deutlich angenommen wurde, äusserte sich «Second@s Plus». Die Annahme der als rassistisch und diskriminierend empfundenen Initiative löste zugleich Erstaunen und Entsetzen aus. 2010 stand die Abstimmung zur Ausschaffungsinitiative und zum Gegenvorschlag an.
Heute ist der Begriff «Secondo» wieder weniger präsent. Dies hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass es sowohl bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung zunehmend zur Selbstverständlichkeit wird, dass sie sich als Schweizer*in wahrnehmen und damit auch selbstverständlich Teilhabe einfordern. «Dieses Land ist auch unser Land», wie es der Historiker und Migrationsforscher Kijan Espahangizi in einem Gespräch mit der Wochenzeitung WoZ auf den Punkt bring: https://www.woz.ch/-59e1.
Dass sich in Sachen Politik von und für Second*as etwas tut, zeigt sich neben dem erwähnten Beispiel von Ylfete Fanaj mit dem Einzug von Maria Pappa ins Stadtpräsidium von St.Gallen. Sie ist die erste Frau in diesem Amt und mit ihr präsidiert zudem erstmals eine Seconda die Stadt St.Gallen: https://www.woz.ch/-b123.
Schliesslich für Leser*innen, die gerne wissenschaftliche Texte lesen: Eine interessante und vertiefende Lektüre zur zweiten Ausländergeneration ist der wissenschaftliche Text des Migrationsforschers Kijan Espahangizi zu «’The Way to School between Two Worlds’. Documenting the Knowledge of Second-Generation Immigrant Children in Switzerland, 1977-1983»: https://www.researchgate.net/publication/336597843_The_Way_to_School_between_Two_Worlds_Documenting_the_Knowledge_of_Second-Generation_Immigrant_Children_in_Switzerland_1977-1983_in_KNOW_-_A_Journal_on_the_Formation_of_Knowledge.